Der Friseurladen

Ein Projekt der Optischen Anstalten
Donnerstag, 12. August 2004
Frisuren in Japan
Mit Haaren verband man einst auch in Japan manch unheimliche Vorstellung oder sprach ihnen zumindest gewisse magische Kräfte zu. Geister wurden gern mit wirrem, losem Haar dargestellt. Und ähnlich wie bei der antiken europäischen Sage vom Haupt der Medusa glaubte man in Japan, das Haar junger Frauen könne sich unter besonderen Umständen, z.B. bei großer Eifersucht, des Nachts in gefährliche Schlangen verwandeln.

Meist allerdings ist das Haar in Japan – wie in vielen Kulturen – ein Schönheitsattribut, das je nach gesellschaftlicher und politischer Situation Veränderungen unterworfen ist. So begegnen uns auf bildlichen und figürlichen Darstellungen im Laufe der Geschichte ganz unterschiedliche Frisuren, die dem Kunsthistoriker wichtige Anhaltspunkte für die Datierung von Kunstwerken zu liefern vermögen. Dabei ist die Variationsbreite naturgemäß beim sogenannten „schönen Geschlecht" weitaus umfangreicher als bei den Herren der Schöpfung. Und so möge der männliche Leser uns gnädig verzeihen, dass im Folgenden der Schwerpunkt auf den weiblichen Frisuren liegt, von denen wir allerdings leider nur einen Bruchteil vorstellen können.

Die haniwa-Tonfiguren des 4. und 5. Jahrhunderts zeigen für Männer eine auf den ersten Blick recht weiblich wirkende Haartracht: den sog. mizura-Stil. Hierbei wird das Haar in der Mitte gescheitelt und über dem Ohr in Schleifen zusammengehalten. Frauen hingegen banden damals ihr Haar hoch und befestigten es in einer großen Schleife oben auf ihrem Kopf (shimadamage).

Mit wachsendem Einfluss Chinas und Koreas wurde die dort übliche Knoten-Frisur im Laufe des 7. Jahrhunderts auch am japanischen Hof populär und ersetzte den mizura-Stil. Nun trug der Mann von Welt einen Haarknoten am Hinterkopf; die adelige Dame bevorzugte bei formellen Anlässen ein Frisurenarrangement, bei dem der Knoten hoch auf dem Kopf saß und am Ansatz gern mit Blumen dekoriert wurde. Kaiser Temmu (2. Hälfte 7. Jh.) förderte diese Art der Frisuren sogar durch eine entsprechende Anordnung.

Doch was in der einen Zeit „in" war, war zu anderer Zeit „out". So wurde es im Laufe der Heian-Zeit (Ende 8. bis Ende 12. Jh.) Mode, das Haar möglichst lang und offen zu tragen. Davon zeugen beispielsweise die Illustrationen auf den Bildrollen zum Genji monogatari. Langes, dichtes und üppiges Haar galt als Inbegriff weiblicher Schönheit und wurde in der Literatur gern besonders hervorgehoben. Im Idealfall wallte es prachtvoll wie ein endloser Fluss über den Rücken herab. Manchmal wurde es zwischendrin auch ein- oder mehrfach zusammengebunden, z.T. wurden auch die Seitenhaare etwas gekürzt.

Allerdings war eine solche Frisur eher für Mitglieder des Hofadels geeignet, die sich der Dichtung und verfeinerten Lebensart widmeten. Wer sich tagtäglich körperlich betätigen musste, band sich hingegen meist die Haare zurück, damit sie nicht bei der Arbeit störten. Allerdings entsprach dies damals in keinster Weise der Würde einer vornehmen Frau am Hofe und machte – wie Sei Shônagon etwas missbilligend in ihrem „Kopfkissenbuch" (Makura no sôshi, um 1000) bemerkt – einen schlampigen Eindruck. Und so trugen die Damen des Hof- und des Schwertadels bis ins 17. Jahrhundert ihre Haare offen, während beispielsweise die Frauen in Kaufmannskreisen allmählich wieder ihre Haare hochsteckten.

Seit der Heian-Zeit galt eine hohe Stirn bei Frauen als besonders schön. Um diesen Eindruck visuell zu verstärken, griff man zu verschiedenen Tricks. So wurde es bei den Damen der Gesellschaft üblich, sich die Stirnhaare auszurasieren. Auch pflegte man die eigenen Augenbrauen auszuzupfen oder – vor allem in der Edo-Zeit (17. bis Mitte 19. Jh.) – wegzurasieren. Die entsprechenden Stellen wurden überschminkt und weiter oben mit dem Tuschepinsel neue Augenbrauen aufgemalt (mayuzumi) – ein Brauch, der sich noch bis ins ausgehende 19. Jahrhundert halten sollte. Dabei war mayuzumi ein Hinweis darauf, dass die Frau das heiratsfähige Alter erreicht hatte, schon verheiratet war oder bereits ein oder mehrere Kinder zur Welt gebracht hatte.

Gegen Ende des 12. Jahrhunderts übernahmen die Samurai die politische Macht, und mit ihren kriegerischen Aktivitäten beeinflussten sie nebenbei die männliche Haarmode. Denn da es im Kampf unter dem Helm recht warm werden konnte, begannen sie, sich vor der Schlacht von der Stirn aus die Haarpartie am Ober- und Hinterkopf wegzurasieren. Das übrige Haar fiel einfach nach unten oder wurde am Hinterkopf in verschiedenen Variationen als Knoten oder Zopf gebunden (sakayaki). Diese Haartracht wurde schließlich von den Kriegern auch in Friedenszeiten getragen, inspirierte zu mancher Frauenfrisur und wurde in der Edo-Zeit in modifizierter Form vom städtischen Bürgertum übernommen.

Als unter dem Einfluss des von den Tokugawa-Shôgunen geförderten Neo-Konfuzianismus Frauen in ihrem Verhalten immer stärker reglementiert wurden, hatte dies auch Auswirkungen auf ihre Frisur. Inzwischen war es wieder Mode geworden, sich die Haare hochzubinden bzw. -stecken. An der Art, wie dies geschah, konnten der Vorschriften kundige Betrachter Alter, Familienstand und soziale Stellung ablesen. Beispielsweise trug eine unverheiratete Frau aus gutsituierten Verhältnissen ihr Haar anders als eine Ehefrau und Mutter, eine geschiedene Dame oder eine Witwe des gleichen Standes, und bei Angehörigen einer anderen Gesellschaftsschicht sah dies wiederum anders aus. Es entwickelte sich eine Vielzahl an Frisuren, die im Laufe der Zeit immer aufwendiger und ausladender wurden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfahren wir von ersten professionellen Friseuren, die sich der Pflege und Gestaltung der weiblichen Haarpracht widmen. Der große Japankenner Lafcadio Hearn (1850-1904), der die letzten 15 Jahre seines Lebens in Japan verbrachte und dort unter seinem japanischen Namen Koizumi Yakumo bekannt geworden ist, verfasste – von der Kunstfertigkeit der Friseure und ihren Kreationen begeistert – sogar ein eigenes Kapitel zum Thema „Frauenhaar", in dem er zahlreiche Frisuren beschreibt. Man erhält den Eindruck, dass eine Frau von kleinauf eine ganze Frisurenserie zu durchlaufen hatte, bei der je nach Alter bereits nach wenigen Jahren eine Frisur auf die vorhergegangene folgte.

„Trendsetter" in der damaligen Zeit waren vor allem berühmte Geishas und Kurtisanen sowie bekannte Kabuki-Schauspieler. Und da ihre Konterfeis auf zahlreichen Holzschnitten und Plakaten erschienen, die oft wie Fanartikel oder Souvenirs erstanden wurden, verbreitete sich die von ihnen präsentierte Mode rasch in der Bevölkerung und gab neue Impulse.

Seit Mitte der Edo-Zeit kamen Haarpfeile (kanzashi), Haarknebel (kôgai) und Zierkämme (kushi) aus Bambus, Holz, Schildpatt, Elfenbein und anderen Materialien in Gebrauch, durch die die kunstvollen Gebilde in Form gehalten wurden. Der kogai wurde waagerecht durch den Knoten am Hinterkopf geschoben und hielt so die gesamte Frisur zusammen, wohingegen mit den Haarpfeilen einzelne Partien festgesteckt und durch den Kamm dekorativ ergänzt werden konnten. Dieser Haarschmuck konnte handwerklich wunderschön gearbeitet und daher recht wertvoll sein. Er bildete, da z.B. Ohr- und Fingerringe damals in Japan nicht üblich waren, oft den einzigen Schmuck der Damen. Teilweise wurden die nun populären Hochsteckfrisuren mit Bärenfell oder anderen künstlichen Haarteilen unterlegt, um ihnen noch mehr Volumen zu geben.

Natürlich konnte eine derart aufwendige Frisur nicht täglich erneuert werden, zumal dies – wie Hearn berichtet – unter Umständen fast zwei Stunden dauerte. Daher verwendete man in der Nacht oder beim Ausruhen besondere Nackenstützen, um das haarige Gesamtkunstwerk nicht zu beschädigen. Bei manchen speziellen Nackenstützen konnte man in einen Hohlraum in ihrem Inneren Räucherwerk abbrennen und auf diese Weise die Haare während des Liegens parfumieren. Für die Haarpflege benutzte man seit alters gern Kämme aus Buchsbaumholz (tsuge-gushi), das besonders weich und daher schonend für das Haar war; überdies verhindert es, dass sich das Haar elektrostatisch auflud. Allerdings hatte damals wie heute Qualität ihren Preis, zumal das Material jahrelang getrocknet werden musste, ehe es verarbeitet werden konnte. Noch heute werden in Kyôto derartige Kämme hergestellt, deren Geschichte bis in die Heian-Zeit zurückreicht.

Mit einer neuen Haartracht wurde – wie in vielen Kulturen – oft auch der Wechsel in einen neuen Lebensabschnitt gekennzeichnet, beispielsweise das Erwachsenwerden durch Aufbinden der Haare bei der Reifefeier oder der Eintritt ins Kloster durch Abschneiden der Haare. Dieser Verzicht auf das eigene Haar, den kostbarsten Schmuck einer Person, war eine Form der Entsagung, und so finden wir Haare auch als religiöse Opfergabe, mit der man die Erfüllung eines wichtigen Wunsches unterstützen wollte. Einst kam es vor, dass sich Frauen nach dem Tod ihres Ehemanns von einem Teil ihres Haares trennten und es als Zeichen ihrer Zuneigung dem Verstorbenen mit in den Sarg legten. Auch die ganz zu Anfang erwähnte kamioki-Zeremonie aus der Edo-Zeit steht für den Übergang in eine andere Altersstufe, denn von diesem Zeitpunkt an ließ man bei 2- bzw. 3-jährigen Kindern, denen bis dahin regelmäßig der Kopf geschoren worden war, offiziell das Haar wachsen. Natürlich war auch die Eheschließung ein wichtiger Einschnitt im Leben. Bei der Hochzeit trug die Braut oft eine ganz besondere Frisur, danach eine ihrer neuen Position als Ehefrau entsprechende Haartracht. Außerdem durfte sie nun die Haare an der Stelle wachsen lassen, die – so schildert Hearn – bei japanischen Mädchen als Zeichen ihrer Unberührtheit regelmäßig wie eine kleine Tonsur ausrasiert wurde, was mit der Heirat und dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit entfiel.

Nach der Öffnung Japans Mitte des 19. Jahrhunderts und der gezielten Übernahme vieler als modern eingestufter Gepflogenheiten des Westens in der Meiji-Zeit (1868-1912) gelangte auch die dortige Frisurenmode nach Japan. Im 1871 verkündeten Gesetz zum Abschneiden des traditionellen Zopfes (Danpatsurei) legte die Meiji-Regierung der männlichen Bevölkerung nahe, sich die Haare entsprechend kürzen zu lassen. Von da ab unterschieden sich die Herrenfrisuren in Japan kaum von denen in Europa oder den USA. Es gab sogar Frauen, die sich in ihrer Offenheit für das Neue eine Kurzhaarfrisur zulegten; dies ging jedoch den Behörden erst einmal zu weit und wurde rasch offiziell untersagt. Doch in der Taishô-Zeit (1912-1926) setzte sich auch die Kurzhaarfrisur für Damen durch. Man imitierte nun westlich orientierte Schauspielerinnen und Rundfunkstars, die als Modevorbilder an die Stelle der Geishas, Kurtisanen und Frauendarsteller des traditionellen Theaters traten, oder eiferte ausländischen Filmgrößen wie Gloria Swanson oder Greta Garbo nach. Der neue Begriff, der in der Shôwa-Zeit (1926-1989) für die aufgeschlossene, junge Frau aufkam, war das moga, das „modern girl".

Bis in die Meiji-Zeit empfand man in Japan glattes Haar als schön. Lockiges oder krauses Haar hingegen erinnerte angeblich an die Behaarung von Tieren und war daher verpönt, so dass Japanerinnen, die derartiges Haar besaßen, sich bemühten, es so gut wie möglich zu glätten. Durch den engeren Kontakt zum Westen gelangten jedoch verschiedene friseurtechnische Errungenschaften aus Europa nach Japan, und so hielten allmählich auch Locken und Wellen Einzug. Anfang der Shôwa-Zeit kam noch die Dauerwelle hinzu, auch wenn sie während des Zweiten Weltkriegs zeitweilig vom Militär verboten war.

Heutzutage trägt man, was gefällt. Traditionelle Frisuren begegnen einem meist nur noch zu besonderen Gelegenheiten, beispielsweise im Nô- und Kabuki-Theater, an Neujahr oder bei einer Hochzeit in Kombination mit traditioneller Kleidung. Als Vorbilder für Modetrends fungieren ähnlich wie im Westen Popstars, Schauspieler und andere bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Sehr beliebt ist gerade bei der jüngeren Generation seit einigen Jahren ein fransig-flotter Haarschnitt. Außerdem hat man das Färben entdeckt. Schwankte früher im japanischen Straßenbild die Farbpalette der Haare – von einigen krass hervorstechenden ausländischen Köpfen abgesehen – nur zwischen blauschwarz und schwarzbraun, so reicht sie nun über alle Braunschattierungen bis zu rot, orange und blond. Auf Anhieb lässt sich von hinten oft kaum noch erkennen, ob man einen Einheimischen oder einen Westler vor sich hat. Trotzdem schaut der eine oder andere Japaner gelegentlich mit gewissem Neid auf die natürliche Farbvielfalt in Europa und Amerika. Doch auch umgekehrt gibt es etwas, was jeder Deutsche gern aus Japan importieren würde: die Kopfmassage. Wer sie einmal bei einem japanischen Friseur genüsslich erleben durfte, wird sich vermutlich sein ganzes Leben lang daran erinnern und sie zuhause schmerzlichst vermissen.

(Quelle Japanisches Generalkonsulat Düsseldorf, 2001)

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