Freitag, 26. November 2004
Die Trockenhaube
figaro, 18:12h
Sie hieß Loretta, Elegance oder Goldilocks und galt als Mercedes für Frauen. Ihr Körper folgte den Wölbungen der Kotflügel, ihre Farbe dem zarten Hautton der Strumpfindustrie, ihre Henkel dem Design von Kühlschrankgriffen. Alles und nichts, ein Behältnis der Extraklasse, goldenbeige, halb durchsichtig, Schneewittchens Sarg, aber nur für den Kopf. Am Ende erschien der Prinz, dies war sicher, löste die Klappe und entließ die aufgestaute Hitze. Doch er küßte nicht, er kämmte. Schneewittchen lächelte ihn huldvoll, wenn auch leicht erschöpft, an. Das Rot ihrer Backen - mußte es nicht Freude sein? Ein Blick in den Spiegel folgte, meist war es Freude. Die Haare klebten in Locken am Kopf! Sie hielten mindestens zwei Tage. Und nächste Woche saß Schneewittchen wieder da, zeigte auf Loretta und sprach mindestens 30 Minuten kein Wort mehr.
Loretta. Nie kam sie allein. Wer unter ihr saß, wußte sich aufgehoben in der Gemeinschaft der für die Schönheit Leidenden links und rechts vom eigenen Stuhl. An dicken Schwenkarmen hingen fünf, sieben, zwölf Trockenhauben in den besonders futuristischen Friseur-Läden von der Decke wie die Blumenkelche eines technischen Straußes, die, um sich bestäuben zu lassen, menschliche Köpfe ansogen. Der Honig, den sie bereithielten, hieß "feminin". Dabei wirkten doch sie selbst wie die schönste und dickste Konstruktion von Weiblichkeit - aus männlicher Hand, sie hatten etwas Gynäkologisches, es war unvorstellbar, jemals einen Mann unter einer von ihnen zu entdecken.
Loretta, unersättlich, immer bereit. Als wir begannen, Raumschiff Enterprise zu sehen, verwandelten sich Mutters Sitzungen beim Friseur in Anlässe für Weltraumphantasien. Loretta sei dank! Unvergesslich ihre Mischung aus Raumfahrerhelm, umgestülptem Einmachglas und Roboterarm, ihr hemmungsloses Summen und Surren, dieses haltlose Versprechen auf Wärme, Liebe und Zukunft. Wenn ich groß war, durfte ich auch darunter! Durfte? Mußte? Ich freute mich, ich hatte Angst, ich war gespannt, ich schüttelte mich. Schwenkten die Hauben nicht wie Dinosaurier-Köpfe aus der Wand, dubiose Archaeopterixe in Aktion? Was für eine Weiblichkeit sollte das sein, die mich da erwartete?
Wer heute zum Friseur geht, wird geföhnt. Zwar gibt es zum Trocknen von Strähnchenfarbe noch Hauben - doch die verdienen den Namen nicht mehr. Ein in beweglichen Hitzemodulen angeordnetes Gestell auf Rollen wird herbeigeholt, wie Cleopatras Kopfschmuckgehänge legen die Einzelteile sich sanft an den Kopf, aerodynamisch geformt, mild warm. Von Haube keine Spur: alles Bedeckende, Schützende fehlt. Hatten Heiraten in den 60ern und frühen 70ern durch Loretta eine Verankerung im Konkretsinnlichen des Alltages - in meiner Vorstellung als Kind begann das Unter-die-Haube-Kommen ganz logisch mit einem stundenlangen Friseurbesuch - wird heute offen windig gelebt. Nicht unbehaust, wie Heidegger meinte, sondern unbehaubt!
Philosophen sollten öfter in Friseursalons gehen. Erst heute, wo die Haube verschwunden ist, verstehen wir, was sie war. Das erste, völlig unerwartete Zeichen der Cyberworld, lange vorm digitalen Zeitalter. Das versteckte Indiz eines Überganges. Scheinbar gehörte sie noch ganz der westlichen Kopfwelt an, die sich über die Büstenkunst der Antike, das Interesse an der Physiognomik bis in die technische Ära der Kopfbahnhöfe erstreckte. Doch der Keim des Wandels steckte bereits in ihr. Schon Lorettas Geräusche und Hitze glichen frühen Computern. Und ganz wie heutige Rechner reduzierte auch sie den Körper auf Auge und Finger. Nur noch dazu da, um durchs globale Klatschdorf zu blättern, Bunte, Frau im Spiegel etc.: Königshäuser, Familiengeschichten, Werbung für Diäten und Mieder, tragische Unfälle, ganz wie beim Zappen im Netz. Buchstaben und Bilder flimmerten vor den Augen, die Haubenhitze benebelte den Kopf, doch Werbung - Clementine oder die Lenorfrau - konnte man immer noch gut genug sehen. Wer unter Loretta saß, ging der realen Welt verloren; Ohren, Nase und Mund waren außer Dienst, wenn man sprach, sprach man mit sich selbst. Ja, die Haube war ein verborgenes philosophisches Gerät, ein Gehirn im Topf, wie es später der Sprachphilosoph Hilary Putnam fruchtbar in die Diskussion warf. Zur Befeuerung der alten Diskussion um Descartes aus dem Geist des Schönheitssalons.
Märchenwelt, wondertime. Heiß, geschützt, mit Bildern befeuert - Kirche, Kinder, Küche versanken. Wer unter Loretta brutzelte, wurde eine Raupe in Verpuppung, sie mußte niemand sein. Mutter sah uns nicht mehr, selbst wenn wir neben ihr auf dem Boden saßen, den Kaffee, der vor ihr stand, trank sie nicht, denn sie konnte ihn nicht erreichen, den Kopf nicht bewegen im engen Gehäuse, festgeschraubt war Mutter im Stuhl. Ihre Hand wirkte wächsern, verwandelt in das Glied einer Puppe. Am schönschlimmsten jedoch war, daß sich nun an ihrem Hinterkopf eine Uhr befand, an der man drehen konnte. Die Uhr tickte vermutlich, im Brausen Lorettas war es nicht zu hören, es roch nur immer wieder leicht nach versengten Haaren, aber wir außerhalb hörten das Klingeln der Haubenwecker, kontrollierten das Braten der Köpfe im Salon. Nicht immer kam der Friseur danach gleich, gern murmelte er etwas von Auskühlenlassen, wie Mutter, wenn sie bestimmte Kuchen im Rohr hatte.
Mutter schien das alles egal. Mit welch abwesendem Blick sie zurückkam! Wie sie uns, ihre Töchter, sekundenlang anstarrte, als erkenne sie uns nicht. Es war offensichtlich: sie reiste unter der Haube irgendwohin, verlor jedoch nie ein Wort darüber, vielleicht, weil sie keines fand. Mein Kopf dreht sich nicht wie eine Schraube unte die Haube. Bevor ich "groß" war, verschwand sie. Mein Kopf arretiert sich (wie) von selbst vorm Bildschirm. Auch nicht beweglicher. Doch manchmal denke ich an Mutters trockenhaubengeformte Frisur zurück. Wie gerollte spröde Gedanken standen die Haare am Kopf, keines tanzte aus der Reihe. Drahthaar, das darauf wartete, ausgewickelt zu werden. Wie Nervenfasern, die wachsen wollen, sich vernetzen, lebendiges Material. Nackt, bevor ein Cyberhelm sie überzieht.
Ulrike Draesner
Glossar des Verschwindens, NZZ 5. Juni 2002, S. 57
Quelle: www.draesner.de
Loretta. Nie kam sie allein. Wer unter ihr saß, wußte sich aufgehoben in der Gemeinschaft der für die Schönheit Leidenden links und rechts vom eigenen Stuhl. An dicken Schwenkarmen hingen fünf, sieben, zwölf Trockenhauben in den besonders futuristischen Friseur-Läden von der Decke wie die Blumenkelche eines technischen Straußes, die, um sich bestäuben zu lassen, menschliche Köpfe ansogen. Der Honig, den sie bereithielten, hieß "feminin". Dabei wirkten doch sie selbst wie die schönste und dickste Konstruktion von Weiblichkeit - aus männlicher Hand, sie hatten etwas Gynäkologisches, es war unvorstellbar, jemals einen Mann unter einer von ihnen zu entdecken.
Loretta, unersättlich, immer bereit. Als wir begannen, Raumschiff Enterprise zu sehen, verwandelten sich Mutters Sitzungen beim Friseur in Anlässe für Weltraumphantasien. Loretta sei dank! Unvergesslich ihre Mischung aus Raumfahrerhelm, umgestülptem Einmachglas und Roboterarm, ihr hemmungsloses Summen und Surren, dieses haltlose Versprechen auf Wärme, Liebe und Zukunft. Wenn ich groß war, durfte ich auch darunter! Durfte? Mußte? Ich freute mich, ich hatte Angst, ich war gespannt, ich schüttelte mich. Schwenkten die Hauben nicht wie Dinosaurier-Köpfe aus der Wand, dubiose Archaeopterixe in Aktion? Was für eine Weiblichkeit sollte das sein, die mich da erwartete?
Wer heute zum Friseur geht, wird geföhnt. Zwar gibt es zum Trocknen von Strähnchenfarbe noch Hauben - doch die verdienen den Namen nicht mehr. Ein in beweglichen Hitzemodulen angeordnetes Gestell auf Rollen wird herbeigeholt, wie Cleopatras Kopfschmuckgehänge legen die Einzelteile sich sanft an den Kopf, aerodynamisch geformt, mild warm. Von Haube keine Spur: alles Bedeckende, Schützende fehlt. Hatten Heiraten in den 60ern und frühen 70ern durch Loretta eine Verankerung im Konkretsinnlichen des Alltages - in meiner Vorstellung als Kind begann das Unter-die-Haube-Kommen ganz logisch mit einem stundenlangen Friseurbesuch - wird heute offen windig gelebt. Nicht unbehaust, wie Heidegger meinte, sondern unbehaubt!
Philosophen sollten öfter in Friseursalons gehen. Erst heute, wo die Haube verschwunden ist, verstehen wir, was sie war. Das erste, völlig unerwartete Zeichen der Cyberworld, lange vorm digitalen Zeitalter. Das versteckte Indiz eines Überganges. Scheinbar gehörte sie noch ganz der westlichen Kopfwelt an, die sich über die Büstenkunst der Antike, das Interesse an der Physiognomik bis in die technische Ära der Kopfbahnhöfe erstreckte. Doch der Keim des Wandels steckte bereits in ihr. Schon Lorettas Geräusche und Hitze glichen frühen Computern. Und ganz wie heutige Rechner reduzierte auch sie den Körper auf Auge und Finger. Nur noch dazu da, um durchs globale Klatschdorf zu blättern, Bunte, Frau im Spiegel etc.: Königshäuser, Familiengeschichten, Werbung für Diäten und Mieder, tragische Unfälle, ganz wie beim Zappen im Netz. Buchstaben und Bilder flimmerten vor den Augen, die Haubenhitze benebelte den Kopf, doch Werbung - Clementine oder die Lenorfrau - konnte man immer noch gut genug sehen. Wer unter Loretta saß, ging der realen Welt verloren; Ohren, Nase und Mund waren außer Dienst, wenn man sprach, sprach man mit sich selbst. Ja, die Haube war ein verborgenes philosophisches Gerät, ein Gehirn im Topf, wie es später der Sprachphilosoph Hilary Putnam fruchtbar in die Diskussion warf. Zur Befeuerung der alten Diskussion um Descartes aus dem Geist des Schönheitssalons.
Märchenwelt, wondertime. Heiß, geschützt, mit Bildern befeuert - Kirche, Kinder, Küche versanken. Wer unter Loretta brutzelte, wurde eine Raupe in Verpuppung, sie mußte niemand sein. Mutter sah uns nicht mehr, selbst wenn wir neben ihr auf dem Boden saßen, den Kaffee, der vor ihr stand, trank sie nicht, denn sie konnte ihn nicht erreichen, den Kopf nicht bewegen im engen Gehäuse, festgeschraubt war Mutter im Stuhl. Ihre Hand wirkte wächsern, verwandelt in das Glied einer Puppe. Am schönschlimmsten jedoch war, daß sich nun an ihrem Hinterkopf eine Uhr befand, an der man drehen konnte. Die Uhr tickte vermutlich, im Brausen Lorettas war es nicht zu hören, es roch nur immer wieder leicht nach versengten Haaren, aber wir außerhalb hörten das Klingeln der Haubenwecker, kontrollierten das Braten der Köpfe im Salon. Nicht immer kam der Friseur danach gleich, gern murmelte er etwas von Auskühlenlassen, wie Mutter, wenn sie bestimmte Kuchen im Rohr hatte.
Mutter schien das alles egal. Mit welch abwesendem Blick sie zurückkam! Wie sie uns, ihre Töchter, sekundenlang anstarrte, als erkenne sie uns nicht. Es war offensichtlich: sie reiste unter der Haube irgendwohin, verlor jedoch nie ein Wort darüber, vielleicht, weil sie keines fand. Mein Kopf dreht sich nicht wie eine Schraube unte die Haube. Bevor ich "groß" war, verschwand sie. Mein Kopf arretiert sich (wie) von selbst vorm Bildschirm. Auch nicht beweglicher. Doch manchmal denke ich an Mutters trockenhaubengeformte Frisur zurück. Wie gerollte spröde Gedanken standen die Haare am Kopf, keines tanzte aus der Reihe. Drahthaar, das darauf wartete, ausgewickelt zu werden. Wie Nervenfasern, die wachsen wollen, sich vernetzen, lebendiges Material. Nackt, bevor ein Cyberhelm sie überzieht.
Ulrike Draesner
Glossar des Verschwindens, NZZ 5. Juni 2002, S. 57
Quelle: www.draesner.de
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